Syrien, Türkei, Jemen: Die
Kriegsberichterstattung von Spiegel, taz, Bild & Co. weist eine Tendenz zur
unterschiedlichen Gewichtung ziviler Opfer auf
Rebellen
starten Offensive gegen Assad-Truppen“, meldete Springers Boulevard-Postille
Bild vergangene Woche mit kaum verschleierter Freude. Dass der Vormarsch der
„Rebellen“, die im übrigen angeführt werden durch islamistische Terrorbanden
wie Ahrar al-Sham und der in Fatah al-Sham umbenannten al-Qaida-nahen
Al-Nusra-Front, mit massivem Beschuss von Wohngebieten begann, bei dem
Zivilist*innen zu Tode kamen, verschweigt das auflagenstärkste Medium
Deutschlands bewusst. Es seien nur „Regime-Positionen“ angegriffen worden.
Was Bild
hier implizit tut, ist, das Leben von Zivilist*innen, einfach weil sie in von
jeweils anderen Kräften kontrollierten Gebieten leben, unterschiedlich zu
gewichten. Tote Menschen auf Rebellenterritorium sind eine Meldung wert,
solche, die in Assad-Gebieten leben, eben nicht.
Die
unterschiedliche Gewichtung vergleichbarer Verbrechen ist dabei in der
Berichterstattung auflagen- und zugriffsstarker Medienunternehmen keineswegs
eine Seltenheit. Vielmehr scheint sie fest in der Arbeitsweise dieser Blätter
verankert zu sein.
An kaum
einem Kriegsschauplatz zeigt sich das deutlicher als am Jemen. Das ärmste
arabische Land wird seit eineinhalb Jahren von einer internationalen Koalition
bombardiert, die von einem engen Partner der Bundesrepublik, Saudi-Arabien,
angeführt und von diversen westlichen Staaten militärisch wie logistisch
gestützt wird. Tausende zivile Tote und eine Hungerblockade dramatischen
Ausmaßes schaffen es dabei äußerst selten über die Wahrnehmungsschwelle
westlicher Leser*innen.
Wer die
verzweifelten Nachrichten in Sanaa lebender Aktivist*innen und Journalist*innen
auf Social-Media-Kanälen zur Kenntnis nimmt, stößt dabei immer wieder auf
Bilder, die man hierzulande nicht zu sehen bekommt: Verbotene Cluster-Bomben
aus britischer Produktion, verbrannte und unkenntliche Kinder-Leichen,
ausgehungerte Menschen, Skelette aus Haut und Knochen. Man sieht diese Bilder
und der Gedanke drängt sich unweigerlich auf: Werden uns nicht vergleichbare
Bilder aus Aleppo wochenlang auf Titelseiten präsentiert, gibt es nicht
hunderte Analysen und Hintergrundberichte zu einzelnen, symbolischen Bildern
dieser Art aus Syrien, insofern es Opfer der russischen oder syrischen
Kriegsführung waren?
Geben wir
in der Suchfunktion von Spiegel-online „Jemen“ ein. Im Zeitraum eines Jahres –
ein Jahr, in dem durchgängig Krieg tobte, mit zahllosen von
Menschenrechtsorganisationen bestätigten Verbrechen – finden sich 173
Suchergebnisse, darunter viele Kurzmeldungen. Für das Stichwort „Syrien“ wirft
die Suchfunktion im selben Zeitraum 2563 Ergebnisse aus.
Sehen wir
nun auf einen speziellen Fall: Am 8. Oktober griff die saudische Luft-
waffe ein
Begräbnis in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa an. Über hundert Menschen
starben, hunderte wurden verletzt. Spiegel-Online meldet das Ereignis
pflichtschuldig am Tag des Geschehens mit einem der
Nachrichtenmassenproduktionsagentur
dpa entnommenen Zehnzeiler. Danach kommt es noch dreimal vor, wieder in Form
von Kurzmeldungen. Halten wir fest: Drei kurze, nicht einmal selbst
recherchierte Texte für ein offenkundiges Kriegsverbrechen durch ein Land, an
das „wir“ Waffen liefern.
Vergleichen
wir dieses Kriegsverbrechen mit einem anderen, das allerdings ungleich weniger
Opfer forderte und ungleich schlechter dokumentiert ist: Der Russland
zugeschriebene Angriff auf einen UN-Konvoi in Syrien im September 2016. Hier
berichtet Spiegel-Online mindestens acht Mal, darunter mit einer
Spiegel-TV-Reportage und längeren Texten des Nahost-Korrespondenten Christoph
Sydow. Ob und wenn ja, wieviele Zivilist*innen bei diesem Angriff zu Schaden
kamen, ist bis heute unklar.
Man kann
sagen: Wer das Unglück hat, im Jemen von einem saudischen Kampfflugzeug
ermordet zu werden, kann dann in weiterer Folge nicht damit rechnen, in jenen
Ländern, die dafür sorgen, dass dieses Flugzeug überhaupt einsatzfähig ist,
wahrgenommen zu werden.
„Wer Westen muss in Syrien eingreifen!“ – und
in der Türkei?
Wechseln
wir in ein anderes Genre, zum sogenannten Kommentar. Hier darf der*die
Schreiber*in meinungsstark auftreten. Auf den Seiten der Welt, der Tagesschau,
der taz, der Zeit, der Bild und anderer finden wir Meinungsbeiträge von
Festangestellten oder externen Autoren, die eine militärische Intervention
gegen das Assad-Regime fordern.
Sehen wir
einen Moment von der einfachen und richtigen Erkenntnis, dass westliche
Militärinterventionen die Situation in den betroffenen Ländern ohnehin immer
nur verschlechtert haben, ab und legen wir den Maßstab der bürgerlichen Autoren
an ein anderes, mit dem Westen eng verbündetes Land an. Die Argumentation geht
ja bekanntlich so: Weil Assad Wohngebiete mit Artillerie, Panzern, Truppen und
aus der Luft angreift, braucht es Schutzzonen für Zivilist*innen, die durch
Flugverbotszonen hergestellt werden sollen.
Wer so
argumentiert, muss wenige hundert Kilometer gen Norden blicken: Das Regime des
türkischen Machthabers Recep Tayyip Erdogan hat dort in den vergangenen zwölf
Monaten dutzende Städte, Stadtteile und Dörfer von der Landkarte radiert.
Cizre, Nusaybin, Sirnak, Gever, Diyarbakir-Sur und andere Orte – teilweise
Gebiete mit über hunderttausend Bewohner*innen – wurden mit Artillerie,
Panzern, Truppen und aus der Luft angegriffen, hunderte Nicht-Kombattanten starben,
hunderttausende wurden aus ihren Wohnungen vertrieben und sind nun
Binnenflüchtlinge. Hat sich irgendjemand dazu hergegeben, hier Flugverbotszonen
und ein militärisches Eingreifen zu fordern? Nein. Wie gesagt: Wir lehnen
westliche Kriegseinsätze grundsätzlich ab. Aber: Wer sie in Syrien für ein
probates Mittel hält, im Südosten der Türkei aber nicht, der misst ohne Zweifel
mit zweierlei Maß.
Eine Frage der Gewichtung
Die Liste
der Beispiele ließe sich endlos erweitern. Man vergleiche die Berichterstattung
zu US-amerikanischen und russischen Luftangriffen, die Belagerung Mossuls und
die Aleppos, die Wertung von Protesten in Libyen und jenen in Katar. Und so
weiter und so fort.
Dabei zu
sagen, über irgendetwas würde „gar nicht“ berichtet, ist allerdings in den
meisten fälschen falsch – obwohl auch das vorkommt. Allerdings decken jene
Presse-Apparate, die sich einen umfangreichen Mitarbeiter*innenstab halten
können, oft alles mögliche ab – schon um die eigenen Seiten irgendwie zu
füllen. Die Frage ist allerdings, wie das jeweilige Thema gewichtet wird: Wie
oft wird es abgehandelt? Kommt es ganz oben auf die Start- oder Titelseite und
wie lange bleibt es da? Wird es mit dramatischen Bildern unterlegt oder nicht?
Schreibt man ausführliche eigene Texte oder kopiert man Agenturmeldungen?
Bestellt man noch einen wertenden Kommentar dazu?
Das
Ergebnis dieser Gewichtung lässt sich im Massenbewusstsein zumindest spüren
(hätte man die Mittel dazu, ließe es sich sicher auch quantitativ erfassen).
Vergleichbare Ereignisse bleiben unterschiedlich lang präsent und ihnen wird
ein unterschiedlicher Wichtigkeitsgrad beigemessen. Während kaum jemand nicht
zumindest irgendwie weiß, dass Assads und Putins Luftwaffe in Syrien Massaker
anrichten, trifft man ständig auf Menschen, für die es eine völlige
Überraschung ist – und die zunächst gar nicht glauben wollen -, dass die
türkische Luftwaffe vor wenigen Monaten ebenfalls Angriffe auf Städte auf dem
„eigenen“ Territorium flog.
Zumindest
unbewusst setzt sich diese Gewichtung bis in die Linke fort: Die
Mobilisierungsfähigkeit in Solidarität mit der kurdischen Bewegung in Rojava zu
Kobane-Zeiten war ungleich höher als die heute. Und das, obwohl die Situation
heute ungleich drastischer ist. Damals setzten die Massenmedien die Angriffe
des Islamischen Staates als Thema. Heute behandeln sie den türkischen Einmarsch
der Koalition aus türkischen Truppen und dschihadistischen Terrorbanden in
Nordsyrien als Meldung unter anderen.
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