Vor 100 Jahren begann mit der russischen
Oktoberrevolution eine neue Phase im Kampf gegen den Kapitalismus. Bis heute
bleiben die Erfahrungen der Revolutionäre lehrreich.
Jörg
Baberowksi ist Historiker. Nicht irgendeiner, sondern Professor für Geschichte
Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und laut Wikipedia „Experte“
für die Geschichte der Sowjetunion. Im Themenheft ‚Oktoberrevolution‘ der staatlichen
Propagandabehörde Bundeszentrale für politische Bildung urteilt Baberowski
folgendermaßen: „Die bolschewistische Partei hatte keinen Massenanhang, sie
vertrat weder die Interessen der Arbeiter noch der Bauern […] sie war eine
Partei von russischen und jüdischen Berufsrevolutionären, die mit dem Volk, das
sie befreien wollten, nicht verbunden waren.“ Die Oktoberrevolution sei nur
deshalb erfolgreich gewesen, weil alle anderen Parteien noch unfähiger gewesen
wären.
100 Jahre
nach der ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution werfen wir einen Blick
auf sie zurück, um aus ihr zu lernen und den Unwahrheiten von Baberowski und
Co. entgegenzutreten.
Es tobt
der erste Weltkrieg. Etwa 15 Millionen Tote kostete der Massenmord auf den Schlachtfeldern
Europas. Während heute Historiker wie Christopher Clark die These aufstellen,
dass Europa in den Weltkrieg „geschlafwandelt“ sei, legte der russische
Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin 1917 seine Schrift „Der Imperialismus als
höchstes Stadium des Kapitalismus“ vor, in der er die Ursachen des Weltkriegs
analysiert. Als wichtigstes ökonomisches Merkmal betrachtet Lenin die
Entwicklung des Kapitalismus der freien Konkurrenz hin zu einem Kapitalismus,
in dem wenige Monopolunternehmen den Markt beherrschen. Diese Monopole teilen
die Welt, also z.B. Absatzmärkte und Einflusssphären, unter sich auf. Das
verschafft den Monopolen zumindest zeitweilig Extraprofit.
Ist die
Welt einmal aufgeteilt kann die Expansion des einen nur auf Kosten des anderen
gehen. Und expandieren müssen alle. Der Kapitalist muss sein Kapital profitabel
anlegen – bei Strafe des eigenen Untergangs, wenn er es nicht tut. Denn die
Konkurrenz wird durch die Monopole nicht aufgehoben, sondern auf eine neue
Stufe gehoben. Auch die Beziehung zwischen Unternehmen und Staat ändert sich.
Lenin beschreibt schon für Russland 1917 den Übergang von monopolistischen
Kapitalismus zum staatsmonopolistischen Kapitalismus, bei dem Monopole und
Staat eng mit einander verwoben sind. Die Staaten agieren dabei als
„Beschützer“ der Profite der Monopole – und zum „Schutz“ (richtiger: zur
Eroberung neuer Profitmöglichkeiten) wird ab 1914 ein Weltkrieg geführt. Der
Weltkrieg war ökonomisch notwendig, weil die Monopole ihn brauchten; politisch
wurde er möglich, weil die Monopole einen Teil ihres Extraprofits einsetzen
konnten, um eine Oberschicht der Arbeiterklasse durch z.B. höhere Löhne oder
bessere Arbeitsbedingungen zu bestechen und sie so auch politisch zu kaufen.
Massen gegen Krieg und für Sowjets
Lenin
nennt diese Oberschicht auch Arbeiteraristokratie. Sie bildet die soziale
Hauptstütze der Bourgeoisie und die Hauptstütze der II. Internationale – also
der Arbeiterparteien, die am Vorabend des 1. Weltkriegs ihre
Antikriegspositionen aufgaben und den imperialistischen Krieg unterstützten,
wie z.B. die SPD im Deutschen Reich oder die Sozialrevolutionäre und
Menschewiki in Russland. Für die Arbeiterklasse bedeutet der Krieg im
Hinterland vor allem Hunger und an der Front den Tod. Sie haben nichts von klingelnden
Kassen der Unternehmer und Spekulanten, die am Krieg verdienen. Das schlägt
sich auch in politischen Aktionen nieder: 1916 hat sich gegenüber 1914 die Zahl
der Streiks von 68 auf ca. 1.500 erhöht. Statt 34.000 Arbeiter sind es jetzt
über eine Million die sich beteiligen. Allein im Januar 1917 streiken 250.000
Arbeiter. Im Juli findet eine Demonstration in der Industriestadt,
Regierungssitz und späteren Revolutionszentrum Petrograd statt. Eine halbe
Million Menschen demonstriert unter den Forderungen der Bolschewiki: „Nieder
mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Den Boden den Bauern!“ Im September 1917
gelingt es den Bolschewiki bei den Wahlen der Delegierten zum Gesamtrussischen
Gewerkschaftskongress die absolute Mehrheit zu erringen. Gar nicht schlecht für
eine Partei, die laut Baberowski „nicht die Interessen der Arbeiter vertritt
und keinen Massenanhang hat“. Das allein reicht aber nicht für eine
erfolgreiche sozialistische Revolution.
Flexibel in den Mitteln
Noch
während sich Russland im Krieg befand, hatte die Februarrevolution den Zaren
gestürzt und die Provisorische Regierung an seine Stelle gesetzt. An dieser
Regierung beteiligten sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Statt den
Weltkrieg endlich zu beenden und mit den anderen Staaten über einen gerechten
Frieden zu verhandeln, setzte die Regierung den Krieg fort und leitete sogar
neue Offensiven ein, die abermals Zehntausende das Leben kosteten, sie
enteigneten auch nicht die Großgrundbesitzer und Monopole und gingen nicht
gegen die Spekulanten vor, sodass sich die Ernährungslage weiter
verschlechterte. Die Bolschewiki griffen in dieser Phase beide Parteien in
ihrer Presse scharf an, weil sie die Interessen der Arbeiter und Bauern
verraten hatten, obwohl die Parteien vorgaben eben diese zu vertreten. Der
Rückhalt der Sozialrevolutionäre und Menschewiki bei der einfachen Bevölkerung
wurde aufgrund ihrer Regierungsarbeit im Interesse der Bourgeoisie tatsächlich
immer kleiner. Es wurde deutlich: Die Bolschewiki sind die einzige Partei, die wirklich
für Frieden und die Interessen der Arbeiter und Bauern einstehen.
Dann
änderte sich die Situation: Im August/September 1917 sah die Reaktion ihre
Chance die Monarchie wieder zu errichten: General Kornilow putschte und zog
konterrevolutionäre Truppen bei Petrograd zusammen, um die Revolution
niederzuschlagen. Der Bürgerkrieg war eröffnet. Aber der Putsch misslang. An
vielen Stellen hatten die Soldaten das Gewehr umgedreht. Sie waren nicht mehr
bereit, im Weltkrieg zu sterben oder gegen die Revolutionäre zu kämpfen. Sie
nahmen Generäle und Offiziere gefangen und wählten Soldatenräte, in denen die
Bolschewiki in der Regel die Mehrheit hatten. Revolutionäre Eisenbahner
verweigerten den Transport der reaktionären Truppenteile nach Petrograd, an
anderen Stellen konnten revolutionäre Truppen die Angriffe zurückschlagen oder,
wie an einer Front durch ein Bündnis aus Bolschewiki, Sozialrevolutionären und
Menschewiki, die Kornilowtruppen sich kampflos auflösten.
Kompromisse mit Gegnern
Diese
Erfahrung verarbeitete Lenin in seinen Artikeln „Die Russische Revolution und
der Bürgerkrieg“ und „Über Kompromisse“ und plädierte darin für einen
Kompromissvorschlag an „die uns nächsten Gegner“, also die Sozialrevolutionäre
und Menschewiki. Diese sollten eine Regierung ohne Beteiligung der Bolschewiki
bilden. Gleichzeitig sollte die Macht vollständig an die Arbeiter- und
Soldatenräte übergehen, denen die Regierung verantwortlich sein sollte. Wenn
das gelänge sei ein friedlicher Verlauf der russischen Revolution möglich und
wahrscheinlich. Auch wenn diese Möglichkeit allgemein höchst selten bestehe,
sei sie doch auch höchst wertvoll. Dabei heißt aber friedlich nicht gewaltfrei.
Denn der Putsch gezeigt: Die Kapitalisten, Großgrundbesitzer, das Militär, der
Adel – sie alle waren bereit und willens die Revolution blutig
niederzuschlagen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekämen. Das konnte nur mit
Gewalt verhindert werden, aber gerade um es nicht zu einem blutigen Bürgerkrieg
kommen zu lassen.
Aufgrund
der veränderten Situation, hatten die Bolschewiki auch ihre Taktik geändert:
Vor dem Putsch galt es vor Sozialrevolutionäre und Menschewiki öffentlich zu
kritisieren, während des Putsches arbeitete man punktuell zusammen, nach dem
Putsch hätte es weitere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit gegeben.
Zwischenzeitlich kam es sogar zur Bildung eines Informationszentrums zum Kampf
gegen die Konterrevolution in Moskau, mit je zwei Vertretern der Bolschewiki,
Sozialrevolutionären und Menschewiki. Lenin befürwortete das, kritisierte aber
scharf als ohne klar festgelegte Aufträge des Zentralkomitees im
Informationszentrum gearbeitet wurde. Die Genossen wurden von der Aufgabe
entbunden und Swerdlow, Vorsitzender des Zentralkomitees der Bolschewiki,
übernahm ihre Aufgaben im Informationszentrum. Denn Menschewiki und
Sozialrevolutionäre blieben Gegner der Bolschewiki, wenn auch die, „die uns am
nächsten stehen.“ Zusammenarbeiten hieß dabei für die Bolschewiki jedoch
niemals die Freiheit der Agitation aufzugeben. Zu keinem Zeitpunkt stellten sie
die öffentliche Kritik an Sozialrevolutionären und Menschewiki ein. Letztlich
schlugen diese auch das Bündnisangebot aus, suchten stattdessen die
Zusammenarbeit mit den Kadetten, einer konservativen Partei, und stellten sich
damit offen auf die Seite der Konterrevolution.
Konsequent für die Revolution
Nun galt
es den Zeitpunkt des Aufstands richtig zu bestimmen und sich nicht auf
Provokationen einzulassen. Bereits im Juli hatte die Provisorische Regierung
auf eine Massendemonstration in Petrograd schießen lassen, wobei 400
Demonstranten getötet wurden. Auch hier hatte es Stimmen unter den Bolschewiki
gegeben, die den Aufstand sofort wollten. Lenin und andere hielten dagegen:
Solange man nicht die Mehrheit in den Sowjets, insbesondere in denen der Armee,
habe, solange es noch keinen revolutionären Aufschwung im Volk gäbe, es keine
großen Schwankungen unter den Feinden der Bolschewiki und im Kleinbürgertum
gäbe, es noch keine rasende Wut gegen die Führer von Sozialrevolutionären und
Menschewiki gäbe, solange man die Macht nicht halten könne, dürfte kein
Aufstand gewagt werden.
Doch all
das hatte sich nach dem Kornilow-Putsch geändert. Bolschewiki hatten einen
enormen Zulauf, sowohl die Mitgliederzahlen als auch die Wahlen zu den
Gewerkschaftskongressen als auch zu den Sowjets belegen das. Es war
offensichtlich geworden, dass man das Revolutionszentrum Petrograd militärisch
verteidigen konnte, dass Menschewiki und Sozialrevolutionäre einen Pakt mit der
Konterrevolution eingegangen waren, dass sie den Krieg fortsetzten, dass sie
nichts zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter und Bauern taten –
das alles war nicht nur in Worten, sondern in der Praxis belegt.
Weg aus der Krise
Nur die
Bolschewiki zeigten einen Weg aus der Krise auf, in der sich das Land befand.
Dieser Weg bestand in der Verwirklichung zentraler Forderungen der Bolschewiki,
die Lenin vor allem in seiner Schrift „Die drohende Katastrophe und wie man sie
bekämpfen soll“ beschrieb: Sofortiges Ende des Krieges; Arbeiterkontrolle über
die Produktion und die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses – um die
Versorgungslage zu verbessern und den Schwarzmarkt einzudämmen; Zentralisierung
und Verstaatlichung der Banken und Monopole – um die Macht der Kapitalisten zu
brechen und die Wirtschaft planmäßig wieder in Gang zu bekommen; Kontrolle des
Konsums – um den Reichen nehmen zu können und den Armen geben können.
Die
Notwendigkeit diese Forderungen unmittelbar umzusetzen war für Arbeiter, Bauern
und Soldaten einsehbar, sollte es nicht z.B. zur Hungersnot kommen. Die
Regierung redete aber nur über Maßnahmen und setzte sie höchstens halbherzig
um. Die Herrschenden von Zar bis Kapitalistenklasse, von Kadetten bis
Menschewiki hatten das Land in den Weltkrieg gestürzt, die Wirtschaft lag
abgesehen von der Rüstungsproduktion am Boden, man war bei englischen und
französischen hoch verschuldet, die einfache Bevölkerung litt unter
Arbeitslosigkeit und Hunger. Es war eine Situation eingetreten, in der die
Herrschenden nicht mehr weitermachen konnten wie bisher und die Beherrschten
nicht mehr wollten wie bisher. Der Sturz der Regierung war unvermeidlich
geworden.
Erste Schritte der jungen Sowjetmacht
Am Morgen
des 24. Oktober 1917 überfielen in Petrograd regierungstreue Offiziersschüler
bolschewistische Druckereien und rückten gegen den Sitz des Zentralkomitees der
Bolschewiki, den Sitz des Sowjets und des Revolutionären Militärkomitees vor.
Die Bolschewiki hatten sich in den Wochen zuvor jedoch gut vorbereitet. Rote
Garden schlugen die Angreifer zurück, befreiten die Druckerei, sodass noch
vormittags gedruckt werden konnte. Innerhalb weniger Stunden wurden ca. 200.000
Soldaten aller revolutionären Truppenteile mit Kampfaufträgen versehen und
besetzten innerhalb von weniger als 24 Stunden ohne nennenswerten Widerstand
alle wichtigen Punkte der Stadt. Am 25. Oktober verkündete das Revolutionäre
Militärkomitee den Sieg der Revolution. Ähnliches ereignete sich in den
folgenden Monaten in den meisten anderen russischen Städten.
Die
Bolschewiki begannen mit der Umsetzung der beschriebenen Maßnahmen. Allen
Völkern Russlands, von denen viele zuvor unterdrückt worden waren, wurden
Gleichheit, Souveränität und das Recht auf einen eigenen, unabhängigen Staat
zuerkannt. Frauen wurden in allen Fragen gleichberechtigt. Religiöse Privilegien
und Diskriminierung wurden abgeschafft, Minderheiten das Recht auf freie
Entwicklung garantiert. Bildung und Gesundheit wurden kostenfrei und für alle
zugänglich. Hunderttausende Arbeiterfamilien zogen aus ärmlichen Holzhütten in
die verlassenen Villen der Gutsbesitzer und Bourgeois. In den Betrieben wurde
der Achtstundentag und die Sozialversicherung eingeführt. Bereits am 8. Januar
bestätigte der 3. Sowjetkongress diese Maßnahmen.
Auch
international hatte die Revolution große Auswirkungen. Russland schied aus dem
Weltkrieg aus und in Deutschland beschleunigte die Nachricht von der
siegreichen Oktoberrevolution die deutschen Revolutionäre dem russischen
Beispiel zu folgen. Im November 1918 stürzten auch sie die Regierung und
beendeten damit den Weltkrieg endgültig. Dennoch versuchten vor allem die
Regierungen Englands, Frankreichs, Japans und der USA die Revolution doch noch
zu stoppen. Sie schickten Truppen gegen das junge Sowjetrussland und
unterstützten die alten Generäle aus dem Kornilow-Putsch. Bis 1922 führten sie
Krieg bis die neu gegründete Rote Armee sie besiegte.
Und heute?
aus POSITION, Ausgabe #5/17 |
Vor 100
Jahren beendeten die russische Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft unter
Führung der Bolschewiki die Herrschaft der Monopole, den Krieg und die
Ausbeutung. Heute herrschen die Monopole wieder, in Westdeutschland haben sie
es sogar durchgehend getan. Nicht nur der Dieselskandal zeigt: Keine
Bundesregierung würde es wagen die Profite der Großkonzerne anzutasten. 2007
war es bei der Bankenrettung ähnlich. Krieg wird auch wieder geführt. Die
Bundeswehr wird wieder weltweit in Kriegseinsätze geschickt. Und auch die
Ausbeutung ist noch da. Sie ist versteckter, letztlich kommen die gigantischen
Profite von Siemens bis SAP und die Privatvermögen der Superreichen aus der
Arbeit der Arbeiterklasse, auch wenn diese heute anders aussieht als vor 100
Jahren.
Jörg
Baberowski schlägt uns vor uns auf die Fehler unserer Feinde zu verlassen. Das
ist ein schlechter Rat wie er von einem Historiker seines Kalibers aber auch
nicht anders zu erwarten ist. Diese Fehler dennoch auszunutzen, aber vor allem
heute den Kampf um die Interessen der arbeitenden und lernenden Jugend führen,
wie es die Bolschewiki taten, sollte unser Anspruch sein. Diesen Kampf müssen
wir mit der Erkenntnis verbinden, dass wir unsere Bedürfnisse und Interessen
erst im Sozialismus vollständig verwirklichen können. Dass das möglich ist,
haben die Bolschewiki vor 100 Jahren bewiesen. Dass es der Kapitalismus nicht
kann, beweist er selbst tagtäglich.
Von Jan
Meier,
Bundesvorsitzender der
SDAJ
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